Manche von uns besuchen eine Ausstellung und wissen genau, wie sie die Bilder entschlüsseln, die Botschaft verstehen und ihre Bedeutung herausfiltern müssen, um darüber befinden zu können, ob der Künstler sein selbst gestecktes Ziel erreicht hat oder nicht. Andere ziehen es vor, wenn ihnen jemand erklärt, was sie gerade betrachten. Oder wie Harald Szeemann mir gegenüber einmal bemerkte: «Die Leute sehen mit den Ohren.»
Würde sich die Ausstellung thematisch auf die Präsentation technisch virtuos komponierter und bearbeiteter Naturfotografien beschränken, könnte sie genauso gut den Titel tragen: «Wie der Mensch das nicht von Menschenhand Geschaffene in von Menschenhand Geschaffenes verwandelt». Glücklicherweise bietet sie jedoch mehr als das. Tatsächlich ist jede einzelne Fotografie sehr schön – Igor Schneebeli versteht sein Handwerk; doch dabei lässt er es nicht bewenden. Seine Bildgruppen greifen einige der ältesten Formen kultureller Auseinandersetzung mit der Natur auf. Er hat auf seinen Wanderungen Jagd gemacht: Er war mit der Kamera auf der Jagd nach Antworten auf die nonverbalen Fragen, die sich zwischen Mensch und Natur stellen. Dabei fängt er manchmal die Antworten ein und manchmal die Fragen. In seinen Fotografien schwingt ein erkennbares Verlangen nach dem Sinnhaften in der Natur mit: genau dasselbe Verlangen nach Sprache, das wir auch beim Betrachten von Kunst verspüren.
Die einzelnen Bilder erfassen mit bestechender ästhetischer Sensibilität einen einzigen aufmerksam beobachteten Moment – eine «Vokabel» im visuellen Vokabular der Natur. Indem Igor Schneebeli die Bilder nebeneinanderstellt und zu Gruppen vereint, formuliert er klare Aussagen und verleiht damit den Fotografien eine Bedeutung, die über ihre individuelle Eleganz und Schönheit hinausgeht. Um das Gedankengebäude, das hinter den Gruppierungen steht, zu verdeutlichen, habe ich die nachfolgende Erläuterung zu einer Gruppe von vier Fotografien verfasst. Sie mag als eine Art geistige Landkarte dienen, als Wegweiser für die Reise durch Igor Schneebelis Gedankenwelt.
KREUZ IN DER WIESE
Auf der ersten Fotografie, «Kreuz in der Wiese», sehen wir ein Objekt, das offensichtlich angefertigt wurde, um eine symbolische Bedeutung zu vermitteln. Zwar ist es ein Holzkreuz, ja, aber wenn man den seltsamen Tand in Betracht zieht, der daran befestigt ist, wie etwa die Perlenkette aus Wildkot oder die beiden zerschlissenen Streifen Nylonband, so lässt das nicht auf ein herkömmliches christliches Begräbnisritual schliessen. So heidnisch, seltsam schön und verlassen, wie es wirkt, soll es offensichtlich eine Botschaft vermitteln – aber was für eine Botschaft? Wir kennen die Sprache nicht, die uns erlauben würde, die Aussage unmittelbar vor unseren Augen zu entschlüsseln. Egal, was für eine Sprache es ist, man hat sie uns nicht gelehrt; das ist genau wie mit der Natur, deren Sprache wir einfach nicht zu verstehen scheinen. Wir ahnen zwar eine Bedeutung, aber wir packen sie einfach nicht. Laurie Andersons Zeile, «All of nature talks to me. If I could just figure out what it was trying to tell me» (Die ganze Natur spricht zu mir. Wenn ich nur enträtseln könnte, was sie mir sagen will), bringt diese Ahnung auf den Punkt. Wir können sie nicht entschlüsseln; wir brauchen eine Erklärung.
BAUM UND FÜNF OBJEKTE
Neben diesem Bild hängt ein ähnliches: «Baum und 5 Objekte». Es ist weniger mystisch, aber nicht minder seltsam. Die scheinbar heitere Waldlandschaft und die Objekte, die wir darin entdecken, sind keine geheimnisvollen Symbole, sondern deutlich identifizierbar, ja sogar alltäglich: ein Schneeschuh, ein Stuhl, ein Paar Ski, eine Sense. Warum nur ein Schneeschuh, aber zwei Skier? Und warum hängen die Skier im Baum – zusammen mit dem Stuhl? Obwohl sie von Menschen gemacht und klar erkennbar sind, erzählen diese Objekte durch ihre Komposition eine Geschichte, die wir in Erfahrung bringen wollen. Wir kennen zwar die Sprache, aber wir können die Geschichte nicht erschliessen. Was hat sich dort im Wald abgespielt? Wir verlangen nach einer Erklärung.
FEDERWOLKEN ÜBER BUSCH
Die dritte Fotografie des Quartetts, «Federwolken über Busch», ist weniger eine Landschaft als eine Himmelslandschaft. Hier bekommen wir die reine Sprache der Natur zu sehen, nichts von Menschenhand Geschaffenes. Das Bild packt einen schlagartig, ein Gefühl, das uns vertraut ist, wenn wir je einen Himmel gesehen haben, der so schön und überwältigend war, dass wir innehalten mussten, um uns einzugestehen, was wir ein Leben lang ignoriert haben: wir sind angesichts der Natur etwa so bedeutend wie die Raupe zu unseren Füssen.
Diese Übermacht ist von atemberaubender Schönheit. Drohend ragt der Himmel auf, ausdrucksstark, dominant, unübersehbar. Die kleine Baumgruppe wirkt, als sei sie auf der Flucht hangabwärts erstarrt. Ihre (reglose) Bewegung hält den panischen Moment der Schutzsuche fest; Es ist derselbe Schreck-/Flucht-/Totstell-Reflex, mit dem auch wir auf eine übermächtige Bedrohung reagieren. Es herrscht Stille, doch die Botschaft ist laut und deutlich: Der Himmel ist gross – wir sind klein. Er ist mächtig – wir nicht. Welch treffendes Bild einer Politik der Einschüchterung.
Spätestens jetzt fällt einem beim Betrachten der Szene auf, dass keiner der Akteure auf dieser Bühne Augen hat. Weder «sieht» der Baum den Himmel, noch «schaut» dieser auf ihn – oder auf uns – herab. Würden wir selbst in ihrer jeweiligen Realität überhaupt als existent wahrgenommen? Wissen sie überhaupt voneinander? Unsere Sinne sagen uns ja. Aber wie können wir das «wissen»? «Verrät» uns die Natur dies? Und wenn ja, wie? Anders als die ersten beiden Bilder vermittelt uns dieses das Gefühl, die Sprache der Natur zu verstehen.
Wir verstehen zwar, aber wir sind ohnmächtig.
SCHWARZES TROCKNUNGSGESTELL FÜR FISCHE
Das letzte Foto der Vierergruppe, «Schwarzes Trocknungsgestell für Fische», wirkt tröstlich, weil es ein von Menschen erbautes Gerüst ist, das einem erkennbaren Zweck dient, dem Trocknen von Fisch. Es steht sicher und fest am Ufer. Es birgt kein Geheimnis, seine Funkionalität wirkt beruhigend. Es bringt einfach die Eleganz einer von Menschenhand geschaffenen, funktionalen Komposition zum Ausdruck.
Man vergleiche die mit diesem Bild verbundenen, harmlosen Gefühle mit jenen, welche die anderen drei Bilder ausgelöst haben. Als Ganzes betrachtet, verdeutlicht die Gruppe in vier kristallinen Facetten das zentrale Thema von Igor Schneebeli: das Verlangen des Menschen nach Sprache und Verstehen; die unwiderstehliche Anziehungskraft, die das Unergründliche auf uns ausübt, und das diese beiden Sehnsüchte in der Natur am deutlichsten zum Ausdruck kommen.
Lize Mifflin-Schmid
Würde sich die Ausstellung thematisch auf die Präsentation technisch virtuos komponierter und bearbeiteter Naturfotografien beschränken, könnte sie genauso gut den Titel tragen: «Wie der Mensch das nicht von Menschenhand Geschaffene in von Menschenhand Geschaffenes verwandelt». Glücklicherweise bietet sie jedoch mehr als das. Tatsächlich ist jede einzelne Fotografie sehr schön – Igor Schneebeli versteht sein Handwerk; doch dabei lässt er es nicht bewenden. Seine Bildgruppen greifen einige der ältesten Formen kultureller Auseinandersetzung mit der Natur auf. Er hat auf seinen Wanderungen Jagd gemacht: Er war mit der Kamera auf der Jagd nach Antworten auf die nonverbalen Fragen, die sich zwischen Mensch und Natur stellen. Dabei fängt er manchmal die Antworten ein und manchmal die Fragen. In seinen Fotografien schwingt ein erkennbares Verlangen nach dem Sinnhaften in der Natur mit: genau dasselbe Verlangen nach Sprache, das wir auch beim Betrachten von Kunst verspüren.
Die einzelnen Bilder erfassen mit bestechender ästhetischer Sensibilität einen einzigen aufmerksam beobachteten Moment – eine «Vokabel» im visuellen Vokabular der Natur. Indem Igor Schneebeli die Bilder nebeneinanderstellt und zu Gruppen vereint, formuliert er klare Aussagen und verleiht damit den Fotografien eine Bedeutung, die über ihre individuelle Eleganz und Schönheit hinausgeht. Um das Gedankengebäude, das hinter den Gruppierungen steht, zu verdeutlichen, habe ich die nachfolgende Erläuterung zu einer Gruppe von vier Fotografien verfasst. Sie mag als eine Art geistige Landkarte dienen, als Wegweiser für die Reise durch Igor Schneebelis Gedankenwelt.
KREUZ IN DER WIESE
Auf der ersten Fotografie, «Kreuz in der Wiese», sehen wir ein Objekt, das offensichtlich angefertigt wurde, um eine symbolische Bedeutung zu vermitteln. Zwar ist es ein Holzkreuz, ja, aber wenn man den seltsamen Tand in Betracht zieht, der daran befestigt ist, wie etwa die Perlenkette aus Wildkot oder die beiden zerschlissenen Streifen Nylonband, so lässt das nicht auf ein herkömmliches christliches Begräbnisritual schliessen. So heidnisch, seltsam schön und verlassen, wie es wirkt, soll es offensichtlich eine Botschaft vermitteln – aber was für eine Botschaft? Wir kennen die Sprache nicht, die uns erlauben würde, die Aussage unmittelbar vor unseren Augen zu entschlüsseln. Egal, was für eine Sprache es ist, man hat sie uns nicht gelehrt; das ist genau wie mit der Natur, deren Sprache wir einfach nicht zu verstehen scheinen. Wir ahnen zwar eine Bedeutung, aber wir packen sie einfach nicht. Laurie Andersons Zeile, «All of nature talks to me. If I could just figure out what it was trying to tell me» (Die ganze Natur spricht zu mir. Wenn ich nur enträtseln könnte, was sie mir sagen will), bringt diese Ahnung auf den Punkt. Wir können sie nicht entschlüsseln; wir brauchen eine Erklärung.
BAUM UND FÜNF OBJEKTE
Neben diesem Bild hängt ein ähnliches: «Baum und 5 Objekte». Es ist weniger mystisch, aber nicht minder seltsam. Die scheinbar heitere Waldlandschaft und die Objekte, die wir darin entdecken, sind keine geheimnisvollen Symbole, sondern deutlich identifizierbar, ja sogar alltäglich: ein Schneeschuh, ein Stuhl, ein Paar Ski, eine Sense. Warum nur ein Schneeschuh, aber zwei Skier? Und warum hängen die Skier im Baum – zusammen mit dem Stuhl? Obwohl sie von Menschen gemacht und klar erkennbar sind, erzählen diese Objekte durch ihre Komposition eine Geschichte, die wir in Erfahrung bringen wollen. Wir kennen zwar die Sprache, aber wir können die Geschichte nicht erschliessen. Was hat sich dort im Wald abgespielt? Wir verlangen nach einer Erklärung.
FEDERWOLKEN ÜBER BUSCH
Die dritte Fotografie des Quartetts, «Federwolken über Busch», ist weniger eine Landschaft als eine Himmelslandschaft. Hier bekommen wir die reine Sprache der Natur zu sehen, nichts von Menschenhand Geschaffenes. Das Bild packt einen schlagartig, ein Gefühl, das uns vertraut ist, wenn wir je einen Himmel gesehen haben, der so schön und überwältigend war, dass wir innehalten mussten, um uns einzugestehen, was wir ein Leben lang ignoriert haben: wir sind angesichts der Natur etwa so bedeutend wie die Raupe zu unseren Füssen.
Diese Übermacht ist von atemberaubender Schönheit. Drohend ragt der Himmel auf, ausdrucksstark, dominant, unübersehbar. Die kleine Baumgruppe wirkt, als sei sie auf der Flucht hangabwärts erstarrt. Ihre (reglose) Bewegung hält den panischen Moment der Schutzsuche fest; Es ist derselbe Schreck-/Flucht-/Totstell-Reflex, mit dem auch wir auf eine übermächtige Bedrohung reagieren. Es herrscht Stille, doch die Botschaft ist laut und deutlich: Der Himmel ist gross – wir sind klein. Er ist mächtig – wir nicht. Welch treffendes Bild einer Politik der Einschüchterung.
Spätestens jetzt fällt einem beim Betrachten der Szene auf, dass keiner der Akteure auf dieser Bühne Augen hat. Weder «sieht» der Baum den Himmel, noch «schaut» dieser auf ihn – oder auf uns – herab. Würden wir selbst in ihrer jeweiligen Realität überhaupt als existent wahrgenommen? Wissen sie überhaupt voneinander? Unsere Sinne sagen uns ja. Aber wie können wir das «wissen»? «Verrät» uns die Natur dies? Und wenn ja, wie? Anders als die ersten beiden Bilder vermittelt uns dieses das Gefühl, die Sprache der Natur zu verstehen.
Wir verstehen zwar, aber wir sind ohnmächtig.
SCHWARZES TROCKNUNGSGESTELL FÜR FISCHE
Das letzte Foto der Vierergruppe, «Schwarzes Trocknungsgestell für Fische», wirkt tröstlich, weil es ein von Menschen erbautes Gerüst ist, das einem erkennbaren Zweck dient, dem Trocknen von Fisch. Es steht sicher und fest am Ufer. Es birgt kein Geheimnis, seine Funkionalität wirkt beruhigend. Es bringt einfach die Eleganz einer von Menschenhand geschaffenen, funktionalen Komposition zum Ausdruck.
Man vergleiche die mit diesem Bild verbundenen, harmlosen Gefühle mit jenen, welche die anderen drei Bilder ausgelöst haben. Als Ganzes betrachtet, verdeutlicht die Gruppe in vier kristallinen Facetten das zentrale Thema von Igor Schneebeli: das Verlangen des Menschen nach Sprache und Verstehen; die unwiderstehliche Anziehungskraft, die das Unergründliche auf uns ausübt, und das diese beiden Sehnsüchte in der Natur am deutlichsten zum Ausdruck kommen.
Lize Mifflin-Schmid